Über Migration sprechen in lettischen Klassenzimmern

Agnese leitet eine Unterrichtsaktivität in einem Lehrkräftefortbildungsseminar in Riga

Von Julia Karmo

Von Anfang an war es das Ziel von Migration Matters (MM), faktenbasierte Gespräche über Migration anzuregen – und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als die Oberstufe in der Schule? Unsere Zusammenarbeit mit dem lettischen Think-Tank Providus ist das erste Mal, dass zwei unserer Reihen, Migration 101 mit Hein de Haas und Aus Sicht von Migrant*innen mit Nassim Majidi, als Materialien für Diskussionen im Unterricht in rund 100 Schulen im ganzen Land verwendet werden. Und wir hoffen, dass dies erst der Anfang ist!

Das Projekt wurde von Agnese Lace ins Leben gerufen, Senior Policy Analyst bei Providus für die Bereiche Migration und Integration. Agneses Team entwickelte und veröffentlichte ein Handbuch für die Lehrkräfte mit methodischen Hinweisen, Konzepterklärungen und Unterrichtsplänen zu den 18 Videos von Migration Matters, die ins Lettische und Russische übersetzt wurden. Sie schulten auch 100 Lehrer*innen in Workshops vor Ort in Riga und vier regionalen Städten, um ihnen zu helfen, das Material an ihre Schüler*innen weiterzugeben.

Julia Karmo von MM traf sich mit Agnese einige Wochen nach Abschluss der Startphase des Projekts. Ihr Gespräch wurde aus Gründen der Länge und Klarheit leicht gekürzt.

Julia: In welchen Klassen diskutieren lettische Schüler über Migration? Und wie ist die öffentliche Meinung zum Thema Migration im Land?

Agnese: Migration wird in lettischen Schulen in verschiedenen Zusammenhängen behandelt: Geschichte, Geographie und Wirtschaft. Im Geschichtsunterricht werden die Schüler*innen über verschiedene Migrationsbewegungen im Laufe der Weltgeschichte und auch der Geschichte Lettlands unterrichtet, insbesondere im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und den damit verbundenen Exilant*innen. Sie sprechen auch im Geographieunterricht über Migration, wenn sie sich mit den menschlichen Bevölkerungsbewegungen und der Demographie beschäftigen. Schließlich wird die Migration im Zusammenhang mit der Wirtschaft und den Arbeitskräften angesprochen.

Die Einstellung zur Migration in der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs ist ziemlich negativ. Es sind weniger, die der Einwanderung aus der Europäischen Union (EU) negativ gegenüberstehen – etwa die Hälfte der Bevölkerung unterstützt die Einwanderung aus anderen EU-Ländern nicht. Aber mehr als 80% der Bevölkerung sind gegen die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern.

Mehr als 80% der Bevölkerung sind gegen die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern.

Wir haben uns sehr über die Zusammenarbeit gefreut, denn einerseits war es schon immer ein offensichtliches Ziel, diese Videos in die Schulen zu bringen, aber das ist nicht einfach zu bewerkstelligen, vor allem nicht in dem von dir beschriebenen politischen Klima. Wie habt ihr das gemacht?

Unser Ansatz bestand darin, zum einen Expert*innen für interkulturelle Kommunikation und zum anderen eine Lehrkraft für Sozialwissenschaften einzubeziehen, die uns bei der Entwicklung von Unterrichtsplänen zu den Videos helfen sollte. Zweitens wussten wir, dass wir direkt mit den Lehrer*innen zusammenarbeiten wollten, anstatt diese Materialien einfach online zu stellen.

Wir wollten direkt mit den Lehrer*innen zusammenarbeiten, anstatt diese Materialien einfach online zu stellen.

Wir haben Lehrkräfte zu einer Reihe von Workshops eingeladen, in denen wir sie in die Rolle eine*r Schüler*in und wir in die Rolle einer Lehrkraft schlüpfen ließen. Wir haben diese Trainings mit fünf verschiedenen Zielgruppen durchgeführt: eine Klasse in Riga und vier in regionalen Städten.

Teamarbeit während eines Lehrkräftefortbildungsworkshops in Riga

Anschließend haben wir Feedback von den Lehrkräften eingeholt. Sie sagten uns zum Beispiel, dass wir mehr Daten über Migrant*innen in Lettland und Letten im Ausland aufnehmen sollten. Sie möchten, dass wir so viele Informationen wie möglich in die Unterrichtspläne und dieses methodische Material aufnehmen, um den Aufwand zu verringern, den sie für die Präsentation dieses Materials in ihrem eigenen Unterricht benötigen.

Ein weiteres Problem, auf das wir gestoßen sind – und das zeigt, wie notwendig diese Arbeit ist – war, dass eine der Koalitionsparteien, die Nationale Allianz, unsere Arbeit als „Einwanderungspropaganda“ bezeichnete. Sie taten dies, ohne den Inhalt unserer Lektionen genau zu überprüfen. In unseren Materialien sagen wir nicht, dass Migration gut oder schlecht ist – wir sagen, dass dies ein normaler Prozess ist und dass es viele Facetten gibt, die wir berücksichtigen müssen. Die Aufmerksamkeit einer nationalistischen Partei, die unsere Arbeit als „Einwanderungspropaganda“ bezeichnet, zeigt, wie leicht es ist, die Meinung der Gesellschaft darüber zu manipulieren, was unsere Arbeit ist. Und das ist nur ein weiterer Grund, die Gesellschaft über Migrationsprozesse und verschiedene Aspekte und Arten der Migration aufzuklären.

Eine nationalistische Partei, die unsere Arbeit als „Einwanderungspropaganda“ bezeichnet, zeigt, wie leicht es ist, die Meinung der Gesellschaft darüber zu manipulieren, was unsere Arbeit ist.

Ich war selbst beim ersten Training dabei, das mit den Lehrern in Riga durchgeführt wurde. Ich hatte den Eindruck, dass einige Lehrkräfte sehr vorsichtig waren, mit ihren Schüler*innen über Migration zu diskutieren, weil die Meinungen auf allen Seiten so aufgeheizt sind. Wie habt ihr die Interaktion zwischen Schüler*innen und Lehrkräften zu diesem Thema geplant?

In erster Linie haben wir versucht, über die wichtigsten Grundsätze der politischen Bildung zu sprechen und verschiedene Stimmen und Positionen zu Wort kommen zu lassen. Wir ermutigen die Lehrkräfte, sich nicht auf eine Seite zu stellen und auch deutlich zu sagen, dass sie das nicht müssen. Ich bin mir nicht sicher, wie erfolgreich wir dabei waren, das werden wir in den Rückmeldungen sehen. In ihren Kommentaren nach dem Training sagten die Lehrkräfte, dass sie nicht sicher sind, ob sie genug Informationen haben, um unparteiisch zu sein.

Wir ermutigen die Lehrkräfte, sich nicht auf eine Seite zu stellen und auch deutlich zu sagen, dass sie das nicht müssen.

Viele Meinungen, die Schüler*innen in den Unterricht einbringen, kommen von zu Hause und spiegeln wider, was sie von ihren Eltern hören. Sie haben oft nicht viele Informationen, um ihre Argumente zu untermauern. Um ihnen dabei zu helfen, müssen die Schüler*innen zusätzlich lernen, ihre Argumente zu formulieren und die Informationen, die ihnen in verschiedenen Formen präsentiert werden, zusammenzufassen.

Welche Bildungsmaterialien, die ihr erstellt habt, haben sich deiner Meinung nach als besonders erfolgreich erwiesen, um die Diskussion über Migration konstruktiv zu gestalten?

Providus-Forscher Rasmuss Filips Geks leitet eine Unterrichtsaktivität zum Thema „Mapping der persönlichen Migration“.

Die erste Frage, die wir stellen – ob ihre Familienmitglieder oder Freunde im Ausland sind oder waren – führt die Teilnehmer*innen schnell zu der Erkenntnis, dass jeder Einzelne eine*n Verwandte*n oder Freund*in im Ausland hat. Und es geht nicht um entfernte Verwandte, es geht um ihre Eltern, Brüder, Schwestern und Kinder. Das Sprechen über persönliche Erfahrungen hilft uns zu zeigen, dass der Migrationsprozess etwas Normales ist. Es hilft auch, den Begriff Migration von der Vorstellung zu trennen, dass er nur für Asylbewerber*innen oder Geflüchtete gilt. Das ist die Tendenz, die wir beobachten, dass das Wort „Migration“ ein Synonym für das Wort „Asyl“ ist, aber das ist nicht der Fall.

Das Sprechen über persönliche Erfahrungen hilft uns zu zeigen, dass der Migrationsprozess etwas Normales ist.

Eine weitere Aufgabe, die wir erstellt haben, besteht darin, die sehr emotionale Entscheidung zu simulieren, was du in deineTasche packen willst, wenn du nur 10 Minuten Zeit hast, bevor du dein Haus für längere Zeit verlässt. Im lettischen Kontext wird das oft mit den historischen Erfahrungen der Deportation in Verbindung gebracht. Diese Übung kann bei Lehrkräften und Schüler*innen unterschiedliche Assoziationen hervorrufen. Es ist eine riskante Aufgabe. Aber diese Art der Betrachtung, wo du gewesen bist, wo du hinwillst oder wo deine Familie ist, hilft auch, das Gespräch zu normalisieren.

Als ich bei der Diskussion in Riga dabei war, konnte ich sehen, wie diese Übungen die Lehrkräfte für eine nuanciertere Sichtweise der Migration empfänglicher machten. Konntest du das gleiche Ergebnis durchgängig und auch in kleineren regionalen Städten feststellen, die wahrscheinlich weniger Migration erlebt haben?

Lehrkräfte in kleineren Städten haben genauso viel Migration erlebt wie die Lehrkräfte in Riga. Einige der ländlichen Gebiete haben sich durch die Abwanderung entleert und die Verbindungen zur Migration sind tatsächlich enger. Ich fand es allerdings sehr interessant, dass, als wir in Daugavpils waren, einer der multiethnischsten Städte Lettlands, in der viele Menschen Migrationshintergründe in ihrer Familiengeschichte haben, viele Leute nicht einmal zuerst daran dachten, dass die Tatsache, dass ihre Großmutter aus Weißrussland kam, ein Element der Migrationsgeschichte war, weil das dort so normal ist. Und auch hier hilft es, von Migration in neutraleren Begriffen zu sprechen.

Lehrkräfte sehen sich während eines Trainings einen Migration Matters-Videovortrag an

Ich weiß, dass du das Feedback nach dem Ende des Schuljahres einholen wirst, aber was hast du bis jetzt gehört?

Das wichtigste Feedback, das wir nach den Trainings erhielten, war, dass aktuelle, relevante Informationen über Migration etwas sind, das sie wirklich brauchen und schätzen. Welche Ergebnisse erhoffen wir uns? Dieses Projekt ist ein kleiner Schritt, um die negative Einstellung zur Migration in der Gesellschaft zu ändern. Was viele Politiker*innen auch nicht verstehen, ist, dass wir immer dann, wenn wir die Migration als etwas Negatives betrachten, auch diejenigen verurteilen, die Lettland verlassen haben und dann vielleicht irgendwann zurückkommen wollen. Viele zurückkehrende Migrant*innen sind tatsächlich auf eine negative Einstellung ihrer Mitmenschen gestoßen: „Du bist ein Verräter“. Ich denke, es ist sehr wichtig, den Diskurs über Migration in dieser Gesellschaft zu normalisieren, und das wäre das langfristige Ergebnis der Aufnahme von Migration in die Lehrpläne der Oberstufe.

Unser kurzfristiges Ziel ist es, dass lettische Lehrkräfte offener werden, über Migration zu sprechen und sich nicht scheuen, diese politisch heiklen Themen im Unterricht anzusprechen.

Unser kurzfristiges Ziel ist es, dass lettische Lehrkräfte offener über Migration sprechen und sich nicht scheuen, diese politisch sensiblen Themen im Unterricht anzusprechen. Dies ist nicht das einzige heikle Thema, es gibt viele: Korruption, Transparenz, Vertrauen in die Institutionen, Vertrauen unter den Einwohner*innen Lettlands, die Frage der Nicht-Staatsbürgerschaft, die Frage der Sprache – all dies sind Themen, die auf unserer aktuellen politischen Agenda stehen und die auch unter Gymnasiast*innen diskutiert werden sollten. Aber oft haben die Lehrkräfte Angst, sie zu diskutieren, weil sie nicht bereit sind, sich in eine Konfrontation zwischen zwei polarisierten Meinungen zu begeben. Aber das ist etwas, das für ein modernes Bildungssystem sehr wichtig ist, dass die Lehrkräfte dafür gerüstet sind und dass die Schüler*innen wissen, wie sie ihre Argumente formulieren und über politisch heikle Themen sprechen können.

Was trägt deiner Meinung nach dazu bei, das Gespräch über Migration zu normalisieren? Du hast erwähnt, zum Anfang der Diskussion persönliche Beispiele zu verwenden. Gibt es noch mehr, was man erwähnen sollte?

Die wichtigste Lektion für mich war, meine positive Einstellung zu diesem Thema vielleicht etwas zurückzuschrauben und mich in diejenigen einzufühlen, die immer noch Angst haben oder nicht wissen, was Migration bedeutet. Das ist etwas, was diejenigen, die einen offeneren Blick auf Migrations- und Integrationsprozesse haben, oft vergessen, nämlich dass es auch normal ist, ein wenig unsicher zu sein oder Angst zu haben. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein und auch offen dafür zu sein, sich diese gegensätzlichen Ansichten anzuhören. Das ist der einzige Weg, wie wir das Gespräch normalisieren können. Normalisierung bedeutet nicht, dass es sofort zu einem positiven Ausblick kommt. Es bedeutet, dass sich jeder unterhalten kann und dass es in Ordnung ist, Angst vor der Einwanderung zu haben oder sie nicht zu mögen.

Die wichtigste Lektion für mich war, meine positive Einstellung zu zügeln und mich in diejenigen einzufühlen, die immer noch Angst haben oder nicht wissen, was Migration bedeutet.

Die Reaktionen, die wir manchmal von Lehrkräften in unseren Trainings hörten, waren: „Ja, aber wisst ihr, ich habe auch schon dies und das gehört“. Nun, man muss bereit sein, anzuerkennen, dass es Verbrechen gibt, die mit Migration, illegalen Migrationsprozessen und Netzwerken des organisierten Verbrechens zusammenhängen. Das ist ein Problem und man muss in der Lage sein, dies zu erkennen. Man kann nicht alle negativen Aspekte leugnen, die ebenfalls mit der Migration verbunden sind. Und man muss bereit sein, über sie zu sprechen. Nur mit transparenter Information und dem Eingeständnis, dass es Dinge gibt, die reguliert oder verbessert werden müssen – nur so kann man tatsächlich einen Dialog mit denjenigen führen, die sich noch nicht sicher sind, was sie z.B. über die Migration denken.

Was sind die nächsten Schritte, die ihr in Bezug auf dieses Projekt und diese Richtung der Arbeit ins Auge fasst?

Was dieses Projekt betrifft, so wird unser nächster Schritt darin bestehen, das Feedback zu sammeln, die Richtlinien für den Unterricht zu verbessern und sie offiziell zu veröffentlichen. Und dann werden wir sehen, ob wir mit anderen NGOs, aber möglicherweise auch mit staatlichen Institutionen zusammenarbeiten können, um zu sehen, ob dies weiter ausgebaut werden kann. Die Schulung von Lehrkräften ist nur ein Aspekt. Ich denke, ein weiterer besteht darin, andere Personen zu schulen, die bei ihrer Arbeit irgendwann mit Migrant*innen zu tun haben, wie z.B. Vertreter*innen staatlicher Institutionen, der Einwanderungsbehörde und so weiter. Derzeit arbeiten wir auch daran, Arbeitgeber*innen bei den praktischen Aspekten der Eingliederung zu helfen. Unser Plan ist es, mit der lokalen Gesellschaft auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Formen zusammenzuarbeiten, um ihr Verständnis zu erhöhen und ihre Angst zu verringern.

Es war mir ein echtes Vergnügen, mit dir zu sprechen! Vielen Dank und viel Glück. Im Namen des Migration Matters-Teams und der beteiligten Professor*innen ist es wirklich großartig zu hören, dass diese Videos genutzt werden. Vielen Dank, dass du deinen Prozess mit uns und unserer Community teilst.

**Bitte kontaktiere uns unter team@migrationmatters.me, wenn du mehr über das Projekt in Lettland erfahren möchtest oder mit uns zusammenarbeiten willst, um Migration Matters-Videovorträge in Schulen zu bringen.**